Entspannte Stimmung in einer angeblich hektischen Stadt.
Foto: Jürgen Becker
Sein Sohn Boris Becker, selbst ein renommierter Fotograf, hatte sich immer wieder nach den Aufnahmen erkundigt. Bis dem Vater keine Ausrede mehr einfiel. Nun liegen die Bilder in einem erfrischenden Schwarz-Weiß-Band vor, der zeigt, wie Jürgen Becker seine Poetik, die den Blick auf das Detail und die Vergänglichkeit richtet, mit den Mitteln der Fotografie fortschrieb – damals. Das ist nämlich das Glück dieser Edition: Sie ist eine Rettungstat.
Abgebrochene Karriere
Denn schon vor 40 Jahren hätten die Aufnahmen veröffentlicht werden sollen. Doch damals, schreibt Becker im Vorwort, war sein Verleger Siegfried Unseld an Fotografie überhaupt nicht interessiert. Schon Beckers im Jahr zuvor veröffentlichter Fotoband, „Eine Zeit ohne Wörter“, hatte der Suhrkamp-Verleger – so des Künstlers Sicht – lieblos herausgegeben.
Buch/Ausstellung
Jürgen Beckers Bildband „New York 1972“ erscheint im Sprungturm Verlag, Köln, hrsg. von Boris Becker, 184 Seiten, 39 Euro.
Dann die brüske Zurückweisung des neuen Angebots. Die hatte Folgen: „Die Mutlosigkeit, die mich befiel und die ich mir heute nicht mehr recht erklären kann, lähmte mich jedenfalls auf eine Weise, dass ich aufhörte zu fotografieren.“ So wurde ein Weg des künstlerischen Ausdrucks verschüttet.
Umso bedauerlicher ist dies, wenn man auf die feine Auswahl blickt. Der Flaneur Jürgen Becker, damals fast 40 Jahre alt, dokumentiert das Jetzt – anders als in der Prosa – „ohne langes Nachdenken“. So teilt er es im Vorwort mit, das als Faksimile abgedruckt ist: kein Computerausdruck, sondern vier Schreibmaschinenseiten lang – Tipp-Ex-Korrekturen inklusive. Die Unmittelbarkeit und Technik-Resistenz, die dadurch zum Ausdruck gebracht wird, entspricht den Fotografien, die nicht mit großem Equipment entstanden sind, sondern mit einer handlichen Rollei.
Morbider Charme im New York des Jahres 1972.
Foto: Jürgen Becker
Es ist März in New York. Richard Nixon bereitet sich auf seine Wiederwahl vor, Francis Ford Coppolas Verfilmung „Der Pate“ hat Premiere und Neil Young steht mit „Heart of Gold“ auf Platz eins der Single-Charts. Doch weder Tagesaktualität noch Wolkenkratzer-Glamour stehen im Fokus, sondern das alltägliche Leben.
Becker spürt die Kraft und den Glanz im Vertrauten auf: die Frau im weißen Mantel, die versonnen über die Kreuzung stöckelt, der Mann auf der Bank, der den Fotografen anstrahlt, oder die Kinder, die feixen oder tiefernst verharren. Es sind Szenen, die einen Roman beginnen oder einen Spielfilm beschließen könnten.
Schuhputzer gehen ihrem Handwerk nach.
Foto: Jürgen Becker
Auch Automobile sind Becker immer wieder ein Foto wert. Gerne solche, die gerade nicht in bester Verfassung sind. Die stehen dann mit aufgeklappter Motorhaube am Straßenrand und verlangen nach Hilfe. Und wenn der Dichter als junger Fotograf eine Marke made in Germany im fließenden Verkehr entdeckt, einen alten Mercedes oder einen Käfer, dann verraten die Bilder noch heute das schnelle Armhochrecken, um den Schnappschuss nur ja nicht zu verpassen.
Jürgen Beckers Selbstbildnis
Foto: Jürgen Becker
Witzige Aufnahmen hellen das Panorama auf. Die vom Hund, der sich in einer Glastür zu bespiegeln scheint, aber in Wahrheit wohl nur nach dem Herrchen Ausschau hält. Oder der Fahrer eines Reinigungsunternehmens („Peter Pan Cleaners“), der damit beschäftigt ist, sein Fahrzeug von Graffiti zu säubern.
Eine Sammlung der Augenblicke ist das, welche die Gegenwart feiert, die vergangen ist. Ein „visuelles Tagebuch“ aus einer brodelnden Stadt, die hier faszinierend still wirkt. Es sind Schauräume, die zum Entdecken einladen.
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